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Auf der Suche nach einer Zukunft – Jugendliche in Ettadhamen

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REPORTAGE. Die tunesische Jugend ist massiv von der Arbeitslosigkeit betroffen, und die Perspektivlosigkeit war der Auslöser des Aufstands. Ein Jahr nach dem Übergang zur Demokratie lassen die ersehnten Veränderungen auf sich warten. Besonders in Ettadhamen, einem der ärmsten und am dichtesten besiedelten Vororte von Tunis – dort hat sich ein dreißigjähriger Mann am Samstag, den 18. März, selbst in Flammen gesetzt.

Im Zentrum von Tunis empfiehlt einem jeder, nicht dort hinzugehen. „Ettadhamen ist wirklich übel, warnt eine Moderatorin von einem lokalen Radiosender. Seit einem Jahr vergeht keine Woche, in der man nicht von Diebstahl, Raub und Überfällen hört. Das ist der Ort mit der höchsten Kriminalität im ganzen Land.“ Die einzige Möglichkeit, diesen Stadtteil gefahrenlos zu besichtigen, sei Ennahda zu kontaktieren. Bei den Parlamentswahlen im Oktober gewann die islamistische Partei fast jeden zweiten Wähler in Ettadhamen.

Wir verabreden uns also mit Abderrazak Hassine, dem politisch Verantwortlichen des Büros von Ennahda in Ettadhamen in Intilaka, der Endhaltestelle von Linie 5 der U-Bahn. An diesem sehr verregneten Montagnachmittag begrüßt uns der Mann mit kleiner Brille und langem Bart mit einem kräftigen Handschlag und bietet uns höflich Zuflucht unter seinem Regenschirm an. „An diesem Ort trifft man nicht oft Europäer“, scherzt der ehemalige Versicherungskaufmann in tadellosem Französisch.

Eine Arbeitslosenquote von 50%

Was uns zuerst auffällt: man sieht die Spuren der Revolution, der Aufstände und des Vandalismus nicht mehr. Im Januar 2011 wurde der Funke, der später auf die Hauptstadt übersprang und für den Sturz des Regimes von Ben Ali sorgte, an diesem Ort gezündet. Ettadhamen hat einen hohen Preis  für die Aufstände bezahlt: mindestens zehn Tode, dreißig Verletzte, von den Sachschäden ganz zu schweigen. Trotzdem hat sich dreizehn Monate später nichts, oder fast nichts im Alltag der etwa 200.000 Einwohner verändert, von denen die meisten vom Land hierher geflüchtet waren. Die Arbeitslosenquote ist hier zum Beispiel immens hoch. Bei den Jugendlichen aus diesem Viertel liegt sie über 50%  – die damit verbundene Hoffnungslosigkeit hat einen dreißigjähren Mann am Samstag, den 18. März dazu gebracht, sich selbst zu verbrennen.

Wir wollen diese verratene Generation treffen und gehen in eines der Cafés der Straße 105, die zusammen mit Straße 106 diese maghrebinische Favela umgibt. Die Gäste im „Oasis“ sind hauptsächlich männlich und scheinen auf den ersten Blick alle unter dreißig Jahre alt zu sein. Bilel Zarkoui, 24 Jahre, ist einer von ihnen. Er sitzt mit vier „Brüdern“ um eine Wasserpfeife herum. Wie sein Tag aussieht? „Rauchen, Kaffee trinken und schlafen“, so fasst er seinen Tagesablauf zwischen zwei Tabakzügen zusammen. Nach dem Abitur hat er ein dreijähriges Studium im Verlagswesen absolviert. Er hat quasi genauso lange studiert, wie er nun arbeitslos ist. „In drei Jahren hat mir das Arbeitsamt nicht ein einziges Angebot geschickt… Und jedes Mal, wenn ich mich initiativ bewerbe, wird mir vorgeworfen, dass ich keine Erfahrung habe.“

Bilel ist erstaunlich geduldig. Er hat den Kongress für die Republik (CPR, Mitte-links) gewählt und scheint nicht besonders enttäuscht von der neuen Regierung zu sein. „Keiner kann zaubern, das dauert seine Zeit.“ Sorgen mache er sich, berichtet er mit ernster Miene, um ein Paar seiner Freunde aus dem Viertel. „Nach der Revolution haben sich einige in richtige Bandenchefs verwandelt, plünderten die Geschäfte und ließen sich auf jede Art von Schmuggelei ein…Andere sind nach Lampedusa geflüchtet und haben nie wieder etwas von sich hören lassen.“

Auch die Berufswahl ist entscheidend

Abderrazak Hassine sitzt etwas zurückgezogen und hört unserm Geplauder aufmerksam zu. „Wir machen langsam Fortschritte, haben aber unsere Prioritäten“, bestätigt der Ennahda-Aktivist. „Letzten Monat haben wir begonnen, eine Liste der Haushalte und Personen zu erstellen, die von der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wir haben begonnen, die qualifizierten, arbeitslosen Jugendlichen zu erfassen…“ Abderrazak sagt, es müsse hier investiert werden. „Ettadhamen ist ein sehr dicht besiedeltes Gebiet, ohne viel Freiräume. Der Stadtteil gilt als sehr unsicher. Warum sollte ein Firmenchef sein Werk gerade hier aufbauen? Bilel stimmt zu. Und erklärt: „Was man auch beachten muss, Herr Hassine, ist die Berufswahl der Jugendlichen. Heute sind viele arbeitslos, weil sie Studiengänge absolviert haben, die in der Arbeitswelt in Tunesien nicht gesucht sind.“

Eine Beobachtung, die die offiziellen Zahlen des Ministeriums für Arbeit bestätigen: von 800.000 Arbeitslosen, die es im Land gibt, haben 71% ein geistes- oder gesellschaftswissenschaftliches Studium absolviert. Für Abderrazak Hassine reicht es also nicht, die Berufsausbildung vielseitiger zu gestalten, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Tunesien muss sich auch dem Ausland öffnen. „Der Sturz der Diktatoren ermöglicht es uns, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Freizügigkeit der Arbeiter mit unseren arabischen Nachbarn auszubauen. Libyen zum Beispiel wird qualifizierte Arbeitskräfte brauchen, um das Land wieder aufzubauen.“

Mikrounternehmen als Mittel gegen die Krise?

Mohamed Amine Ouni, 25 Jahre, lehnt diese Perspektive ab. „Warum sollen wir ins Ausland gehen? Wenn alle gebildeten Jugendlichen das Land verlassen, wird sich Tunesien nicht weiterentwickeln.“ Er ist Ingenieur und Informatiker, hat zwei Diplome in der Tasche und wartet darauf wartet, das große Los einer Stelle zu ziehen. Währenddessen engagiert er sich in Verbänden und hat Startup Weekend ins Leben gerufen.  Die Idee dahinter? Firmengründungen zu unterstützen und weiterzuentwickeln, besonders in den Bereichen Industrie und neue Technologien. So sollen Arbeitssuchende und Gründer miteinander in Kontakt kommen. „Wenn ich selbst keine Arbeit finde, so finde ich wenigstens Arbeit für andere“, sagt er selbstlos. Unter den fünfzehn ehrgeizigen Initiativen, die bei der zweiten Veranstaltung Mitte Dezember in Tunis teilnahmen, ging das Projekt Eggy als Sieger hervor: „Eine wagemutige Methode, das Eigelb vom Eiweiß zu trennen und danach zu trocknen, zu Konzentrat zu verarbeiten und zu vermarkten.“

Tunesien hat 2012 Demokratie und das Recht auf freie Meinungsäußerung zurückbekommen. Nun muss es noch seine Talente aufblühen lassen, um wirtschaftlich erfolgreich zu werden und sozialen Frieden garantieren zu können.

Donatien Huet

 

Bilder: an einem Strand von Karthago sucht ein Kind den Horizont ab; Abderrazak Hassine, politischer Verantwortlicher des Büros von Ennahda in Ettadhamen, Bilel Zarkaoui, 23 Jahre, Abitur und Absolvent eines dreijähriges Studiums, der seit drei Jahren arbeitslos ist (© Donatien Huet). Ein Team, das am Startup Weekend am 18. Dezember 2011 in Tunis teilgenommen hat (© Medhi HRZ).


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